Fallreflexion
Fallreflexion
im Ausbildungsprogramm "Feinfühlig Unterrichten"
Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist der Dreh- und Angelpunkt des schulischen Lehrens und Lernens. Dort zeigen sich die Probleme und Schwierigkeiten, die ein Kind bei der Aneignung von Themen hat und dort wird auch die innere Welt der Kinder erfahrbar, die ja mit Blick auf Lernprozesse alles andere als vernachlässigbar ist.
Der Frage, was sich genau innerhalb der Lehrer-Schüler-Beziehung abspielt, welche Anteile die Kinder und welche Anteile der Lehrer daran haben, wie genau das Verhalten und Erleben des Kindes und wie vielleicht auch eigene Verhaltens- und Erlebensweisen zu verstehen sind, inwieweit die Gruppendynamik oder die organisatorische Struktur der schulischen Erziehung auf den individuellen Fortschritt der Kinder einwirken – all diesen Fragen wird im Rahmen eines Seminars zu Fallreflexion nachgegangen.
Die Fallreflexion orientiert sich in theoretischer und methodischer Hinsicht an Michael Balint, einem ungarischen Arzt und Psychoanalytiker, der die so genannte Balintgruppe zur Fortbildung bereits tätiger Professioneller in den 1950er Jahren entwickelt hat und dessen Ansatz noch heute die Basis für viele Supervisionskonzepte abgibt (vgl. Otten 2012).
Die Gruppe besteht aus bis zu 13 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und trifft sich einmal in der Woche für 1,5 Stunden. Ausgangspunkt der Gruppenarbeit ist die freie Darstellung eines Falls durch einen Teilnehmer bzw. eine Teilnehmerin – mit allen Irritationen, Auslassungen und Ungereimtheiten. In diesem Sinne soll die Falldarstellung auch nicht vorbereitet werden. Die Gruppe hört dann zu, fragt nach, wenn es Sachverhalte objektiv zu klären gibt und fängt dann an, frei zu dem Gehörten die eigenen Gedanken, Phantasien, Empfindungen etc. zu äußern. Somit wird der problematische Fall prismatisch aufgefächert und mit Sinn und Bedeutung versehen, die für das Fallverstehen unabdingbar sind.
Dass dies gelingen kann, ist auf die so genannte Widerspiegelungshypothese und den Parallelprozess zurückzuführen. Die Widerspiegelungshypothese besagt, dass sich der problematische Fall in all seinen bewussten und unbewussten Facetten in der und durch die Gruppe widerspiegelt und so verstehbar wird. Das Prinzip des Parallelprozesses verweist auf die Tatsache, dass sich das Arbeitsbündnis zwischen dem Professionellen und seinem Fall parallel im Gruppenprozess zwischen Falldarsteller, seinem Fall und der Gruppe zeigt. Die schwierige Situation außerhalb der Gruppe wird so im „Hier und Jetzt“ der Gruppe bearbeitbar (vgl. Hechler 2005).
Balintgruppenarbeit ist ihren Wesen nach Beziehungsdiagnostik. So bietet sie eine unverzichtbare Möglichkeit, den Beziehungs- und Bindungsdynamiken, die den Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensstörungen zu Grunde liegen, nachzuspüren und das Verstehen für die Praxis nutzbar zu machen.
Literatur
Hechler, O. (2005): Psychoanalytische Supervision sozialpädagogischer Praxis. Eine empirische Untersuchung über die Arbeitsweise fallzentrierter Teamsupervisionen. Frankfurt am Main
Otten, H. (2012): Professionelle Beziehungen: Theorie und Praxis der Balintgruppenarbeit. Berlin Heidelberg New York