ADHS bei Studierenden im Schwerpunkt Lernen (Gras, 2022)
von Rebecca Gras
„Ob der Philipp heute still, wohl bei Tische sitzen will?“ (Hoffmann, 1987). Die Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, ist heute vielen Menschen ein Begriff. Dabei wird meistens immer noch an Jungen wie Zappel-Philipp gedacht, die sich nicht benehmen können, laut und auffallend, nicht gut in der Schule, faul, dumm und verzogen sind.
ADHS gehört mit einer Prävalenz von fünf Prozent zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Robert-Koch-Institut, 2018). ADHS bezieht sich jedoch nicht nur auf das Kindes- und Jugendalter, sondern betrifft in vielen Fällen auch Erwachsene. Da ADHS meist mit akademischen Scheitern gleichgesetzt wird, wurde die ADHS-Prävalenz bei Studierenden bislang kaum erforscht.
ADHS muss als Spektrum verstanden werden, in dem sich die Symptomatik in vielfältiger Weise zusammensetzt. Es geht um differenzierte Erlebens-, Reaktions- und Handlungsweisen, die sich auf alle Lebensbereiche von Betroffenen auswirken (Lachenmeier, 2021). Die drei Hauptsymptome sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität (Gawrilow, 2016). Häufige Nebensymptome sind emotionale Dysfunktionen, mangelnde Stresstoleranz, Desorganisation, Ungeduld, Vergesslichkeit und erhöhte Suchtgefahr (ADHS-Ratgeber, 2022). In der Symptomzusammensetzung gibt es Häufungen, welche als ADHS-Erscheinungsbilder beschrieben werden. Im Krankheitsregister der DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) werden diese als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung als Mischtypus, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei vorherrschender Unaufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei vorherrschender Hyperaktivität und Impulsivität definiert (First, 2016).
ADHS ist eine Störung, die mehrere Ursachen trägt. Es handelt sich um ein Zusammenspiel aus psychosozialen und biologischen Faktoren. Vor allem die Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin spielen in der Neurochemie bei ADHS eine entscheidende Rolle (Döpfner et al., 2012).
Viele Personen mit ADHS haben Schwierigkeiten die schulischen, akademischen und beruflichen Leistungen nachhaltig zu erfüllen (Banaschewski, 2018). Liegt dies an mangelnden Fähigkeiten, institutionellen Rahmenbedingungen oder gibt es doch eine Gruppe an Betroffenen, die akademisch erfolgreich sind? Es existiert bislang kaum empirische Forschung über Studierende mit ADHS, sodass nicht festgestellt werden kann, wie hoch die Prävalenzen sind.
In der Zulassungsarbeit wurden Studierende der Sonderpädagogik mit Schwerpunkt Lernen der Universität Würzburg mithilfe eines selbst erstellten Fragebogens und der Kurzversion der Conners` Adult ADHS Rating Scales (CAARS) befragt. Dabei handelt es sich um einen Fragebogen zur Diagnostik und Verlaufsuntersuchung von Aufmerksamkeitsstörungen bei Erwachsenen. Der Fragebogen enthält vier Inhaltsskalen: „1 Unaufmerksamkeit/ Gedächtnisprobleme“, „2 Hyperaktivität/ motorische Unruhe“, „3 Impulsivität/ emotionale Labilität“ und „4 Selbstkonzeptprobleme“ (Conners et al., 2014).
Es zeigt sich, dass von 83 Teilnehmenden eine Person bereits eine ADHS-Diagnose aufwies, dabei jedoch nicht medikamentös behandelt wird. Jedoch vermuten 17.3% der Stichprobe, dass bei ihnen eine ADHS vorliegt. Die erhobenen Daten der CAARS werden in Normwerten angegeben, welche einen Mittelwert von 0 und eine Standardabweichung von 1 haben (z-skaliert). Die Ergebnisse zeigen, dass die Mittelwerte in allen Variablen erhöht sind. Vor allem wird dies in den Variablen von Hyperaktivität (0.38), Unaufmerksamkeit (0.49) und Selbstkonzept (0.57) deutlich. Dabei scheinen die Daten normalverteilt um den Mittelwert Null, allerdings mit Extremwerten von bis zu drei Standardabweichungen. Die Auswertung ergab, dass von 83 Teilnehmenden 15 (18.1%) in der Skala Unaufmerksamkeit, 13 (15.7%) in der Skala Hyperaktivität, 10 (12.0%) in der Skala Selbstkonzept, 4 (4.8%) in der Skala Impulsivität und 11 (13.3%) im ADHS-Index kritische Werte aufzeigen. Ebenso zeigen die Ergebnisse, dass von 83 Teilnehmenden 20 Personen in mindestens einer Skala kritische Werte aufzeigen, was 24.1% entspricht.
Es gibt mehrere Erklärungsansätze für die deutlich erhöhten Werte, wobei bisher nicht eindeutig bewiesen werden kann, auf welche genauen Ursachen die Ergebnisse zurückzuführen sind. Es konnten durch den Selbstbeurteilungsfragebogen der CAARS zu Verzerrungen durch die eigene Wahrnehmung kommen. Dies könnte mit Persönlichkeitsmerkmalen (reflektiert, moralisch, kritisch, intrinsisch motiviert) der Stichprobe erklärbar sein. Ebenso könnte der Studiengang Sonderpädagogik mit Förderschwerpunkt Lernen für Studierende mit ADHS durch die Vielschichtigkeit des Studiengangs durch verschiedene pädagogische, didaktische, diagnostische, psychologische und soziologische Facetten sehr ansprechend sein. Auch der Beruf als sonderpädagogische Lehrkraft könnte der Anreiz für das Studium sein.
Die hohe Dunkelziffer der Diagnosen könnten durch geschlechtsspezifische Unterschiede erklärbar sein, da ADHS heute noch als „kleine-Jungen-Krankheit“ geframt und sich im Studiengang mehr Frauen als Männer befinden. Durch anerzogene vermeintlich weibliche und männliche Eigenschaften verhält sich ein Mädchen mit ADHS anders als ein Junge mit ADHS und erhält dadurch seltener die Diagnose. Ein weiterer Grund für die hohe Dunkelziffer ist der Umgang mit psychischen Krankheiten in unserer Gesellschaft. Es wird oft erst gehandelt, wenn es zu spät ist und bereits gescheitert wurde. Da für das Studium ein abgeschlossenes Abitur nötig ist, waren die Betroffenen vielleicht zu erfolgreich für eine Diagnose. Außerdem haben viele Lehramtsstudierende die Verbeamtung als Ziel, was die Studierenden hemmen könnte, sich diagnostizieren zu lassen.
Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass es im Spektrum von ADHS eine Gruppe an Personen gibt, die trotz oder wegen der Symptomatik sehr erfolgreich im Leben sind. Sie sind von derselben Symptomatik betroffen, können diese aber so ausgleichen oder für sich nutzen, dass sie davon profitieren. Dies könnte eine hohe kognitive, emotionale und soziale Intelligenz beinhalten.
Die Ergebnisse zeigen, dass der ADHS-Index sowie einzelne Inhaltsskalen der CAARS deutlich erhöht sind. Das bedeutet, dass viele Studierende der Stichprobe bei sich selbst eine Symptomatik beschreiben, die der Symptomatik von ADHS entspricht, jedoch keine ADHS-Diagnose haben. Durch das Ausbleiben der Diagnose, kann es zu keiner Therapie kommen, was gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit und das Leben von Betroffenen haben kann. Damit diesem Trend entgegengewirkt werden kann, muss sich die Sichtweise auf ADHS verändern. Die Diagnose darf nicht erst beim absoluten Zusammenbruch in Erwägung gezogen werden, sondern sobald eine Person ADHS-typische Symptome aufweist und unter ihnen leidet. Allein das Wissen der eigenen Betroffenheit kann helfen, sein eigenes Potential im Zusammenspiel mit ADHS zu entfalten.
Dafür muss die Gesellschaft das Bestehen von psychischen Krankheiten akzeptieren und Entstigmatisierungs- sowie Aufklärungsarbeit leisten. Dies beginnt damit, Personen mit psychischen Beeinträchtigungen in der Mitte der Gesellschaft einen Platz anzubieten und bestehende Strukturen zu Gunsten von Betroffenen verändern zu können. Daher sollten auch Rahmenbedingungen von Universitäten kritisch hinterfragt werden und exkludierende Strukturen verändert werden können. Gerade wenn empirisch nachgewiesen werden kann, dass ein Großteil der Sonderpädagogik Studierenden im Förderschwerpunkt Lernen an ADHS-Symptomen leidet, sollte seitens der Universität inklusiv darauf eingegangen werden – Beispiele sind Seminare über methodische und persönliche Kompetenzen des Studierens, „Paten-Systeme“ für Organisatorisches, einheitliche und planbare Anmeldungs- und Prüfungsfristen, ADHS-Gruppen für persönlichen Austausch und/oder ein allgemeines Angebot an psychologischer Beratung.